Am 1. April 1991 wurde Christoph München als erster offizieller Intensivtransporthubschrauber (ITH) Deutschlands in Dienst gestellt. Davor waren Verlegungen von Patientinnen und Patienten unter intensivmedizinischen Bedingungen eine Rarität. Heute sind ITHs ein wichtiger Bestandteil des Rettungssystems in Deutschland. Welche Herausforderungen es auf dem Weg dahin zu meistern galt, welche Bedeutung der Intensivtransporthubschrauber für die DRF Luftrettung heute hat und was das alles mit dem Thema Nachtflug zu tun hat? Darüber haben wir mit Dr. med. Jörg Braun, Fachbereichsleiter Medizin, gesprochen.
Herr Dr. med. Braun, Sie sind bereits seit 2003 Teil der DRF Luftrettung, waren auch schon davor im medizinischen Bereich als Arzt tätig und haben die Entwicklungen somit lange begleitet. Wenn Sie auf die vergangenen 30 Jahre zurückblicken, was hat sich von damals bis heute im Bereich der Intensivtransporte alles verändert?
Dr. med. Jörg Braun: Eine ganze Menge! Das ist schließlich eine lange Zeit. Da kann sich viel verändern und soll es auch. Gerade im Bereich der Medizin und Notfallrettung. In den Anfängen hat es für den Intensivtransporthubschrauber vor allem viel Pionierarbeit und die Überzeugung Einzelner benötigt. Die Verlegung von Patientinnen und Patienten unter komplexen intensivmedizinischen Bedingungen war damals noch eher eine Seltenheit. Zu Beginn musste erst einmal entwickelt werden, wie so ein Transport mit dem Hubschrauber überhaupt aussehen kann. Was wird dafür benötigt? Wie groß muss der Hubschrauber sein und welche Geräteausstattung braucht es? Sind Hubschrauber grundsätzlich dafür geeignet? Heute, 30 Jahre später, können wir sagen: Ja, das sind sie!
Wie ist es überhaupt dazu gekommen, Verlegungen luftgebunden durchzuführen?
Dr. med. Jörg Braun: Da waren mehrere Faktoren im Spiel. In den 1980er Jahren veränderten sich die Behandlungsmöglichkeiten zum Beispiel für das schwere akute Lungenversagen durch die Einführung extracorporaler Ersatzverfahren*. Da diese und andere Spezialbehandlungen mit sehr hohem Aufwand verbunden waren, entstanden Spezialzentren und damit die Notwendigkeit, schwerstkranke Patienten mit entsprechender Dringlichkeit unter möglichst optimalen Bedingungen zu transportieren. Es gab also zunehmend einen hohen Bedarf an Verlegungen und damit stellte sich auch die Frage nach dem richtigen Transportmittel. Gleichzeitig kam es zu einer zunehmenden Verbesserung und Miniaturisierung der Gerätetechnik**. Und das war auch unbedingt erforderlich. Denn das ermöglichte es zum damaligen Zeitpunkt überhaupt erst, Patienten unter den auf der Intensivstation gewohnten Bedingungen transportieren zu können. Später kam dann die Etablierung von Zentren zur Beatmungsentwöhnung und zur neurologischen Frührehabilitation hinzu, zu denen noch intensivmedizinisch zu behandelnde Patienten verlegt wurden.
Es brauchte aber – wie schon zu Beginn der Etablierung der Luftrettung in Deutschland – Ärzte, die von der Idee eines luftgebundenen Intensivtransports überzeugt waren und das Thema vorantrieben. Ohne die Vision von Prof. Klaus Peter, Prof. Christian Madler und Dr. Roland Huf vom Klinikum Großhadern universitäre Spitzenmedizin in Kooperation mit dem Arbeiter Samariter Bund (ASB) in einen Hubschrauber zu bringen, wäre der heutige Intensivtransporthubschrauber „Christoph München“ undenkbar. Aber auch ohne Luftrettungsorganisationen oder private Luftfahrtunternehmen, die sich engagierten und bereit waren, Risiken einzugehen, wäre es nicht gegangen. Da war auch finanzieller Mut gefragt! So auch in München: Die HDM Luftrettung gemeinnützige GmbH, die 2008 Tochterunternehmen der DRF Luftrettung wurde und 2016 in ihr aufgegangen ist, hat zu Beginn die Kosten für Hubschrauber und Piloten teilweise selbst getragen.
*Anmerkung der Redaktion: Extrakorporal bedeutet „außerhalb des Körpers befindlich“.
**Anmerkung der Redaktion: Miniaturisierung meint den Prozess zur Verkleinerung von Strukturen unter Beibehaltung der Funktion.
Wie ging es dann weiter?
Dr. med. Jörg Braun: Nach dem ersten Jahr war dann klar, dass die Idee des luftgebundenen Transports aufgegangen ist. Und auch der Ansatz, von Anfang an 24 Stunden einsatzbereit zu sein. Neben der HDM Luftrettung haben verschiedene Rettungsorganisationen in den neunziger Jahren dann den weiteren Aufbau von zusätzlichen Standorten vorangetrieben – zunächst weitestgehend auf eigenes Risiko. Die Integration der Intensivtransporthubschrauber in das öffentlich-rechtliche Luftrettungssystem erfolgte erst viel später und schrittweise, sie begann in München mit der Zuteilung des Funkrufnamens Christoph München am 17.07.2002.
Ist man auf diesem Weg auch auf Widerstand gestoßen?
Dr. med. Jörg Braun: Ja, natürlich. Die Notwendigkeit mit hoher Dringlichkeit schwerstkranke Patienten verlegen zu können, ja zu müssen – und das rund um die Uhr – wurde nicht überall gesehen. Zumal hier natürlich auch erhebliche Vorhaltekosten entstehen. Anfangs wurden Intensivtransporthubschrauber auch teilweise als Konkurrenz zu bodengebundenen Intensivtransporten gesehen. Bis sich die Einsicht durchsetzte, dass es nicht konkurrierende, sondern sich sinnvoll ergänzende Systeme sind. Auch stieß der 24-Stunden-Betrieb von Hubschraubern teilweise auf Sicherheitsbedenken. Hier hat die HDM Luftrettung durch die entwickelten Flugverfahren mit Instrumentenflug den Grundstein für einen sicheren Einsatz auch in der Nacht gelegt. Nach dem Zusammenschluss mit der DRF Luftrettung hat diese mit der Einführung von Nachtsichtbrillen in der zivilen Luftfahrt und dem Einsatz der jeweils modernsten Luftfahrzeuge im Intensivtransport die technischen Möglichkeiten innovativ genutzt und konsequent weiterentwickelt.
Heute haben wir zum Glück eine hohe Akzeptanz, die Intensivtransporthubschrauber sind ein wichtiger Bestandteil des Rettungssystem in Deutschland geworden. Sie werden überall auch für Notfalleinsätze eingesetzt und erfüllen damit eine wichtige, sogenannte „Dual-Use-Funktion“.
Die Grenzen zwischen Intensivtransport- und Rettungshubschraubern verschwimmen zusehends.Dr. med. Jörg Braun, Fachbereichsleiter Medizin der DRF Luftrettung
Wie kam es dazu, dass die meisten ITHs von Beginn an rund um die Uhr einsatzbereit waren?
Dr. med. Jörg Braun: Intensivtransporthubschrauber wie in München, Nürnberg, Regensburg oder Berlin waren von Anfang an rund um die Uhr einsatzbereit. Denn Intensivmedizin kennt keine Regelarbeitszeit. Der Zustand von Intensivpatientinnen und -patienten kann sich jederzeit kritisch verschlechtern und zu einer dringenden Verlegung führen. Häufig wird die Verlegungsindikation erst nachmittags gestellt, nachdem man sich den ganzen Tag um den Patienten bemüht hat, aber keine Verbesserung seines Zustandes eingetreten ist. So verschieben sich Transporte in die Abend- und Nachtstunden. Darauf muss man vorbereitet sein.
So konnte über viele Jahre Erfahrung im Nachtflug aufgebaut werden. Diese Erfahrung wird nun seit einigen Jahren genutzt, um auch Notfalleinsätze in der Nacht durchzuführen und dabei, wenn möglich, direkt an der Einsatzstelle zu landen. Das ist natürlich nochmal anspruchsvoller. Mit moderner Technik, einer hochklassigen Ausbildung und entsprechenden Verfahren jedoch ebenfalls sicher umsetzbar. Aus meiner Sicht ist es in Anbetracht der bestehenden Möglichkeiten nicht mehr vermittelbar, weshalb ein Patient zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall nachts um zwei Uhr schlechtere Chancen haben soll als morgens um sieben. Genau diesen Anspruch, 24 Stunden, 365 Tage im Jahr für Menschen in Notsituation verfügbar sein zu wollen, den haben uns die 24-Stunden-Intensivtransporthubschrauber gelehrt. Und das gilt es nun, konsequent in die Praxis weiter auszubauen.
Welche Rolle nehmen Intensivtransporthubschrauber heute ein?
Dr. med. Jörg Braun: Das Einsatzspektrum ist heutzutage deutlich umfassender und auch die Komplexität der Einsätze hat zugenommen. Nach wie vor ist die hauptsächliche Domäne der schnelle Transport zum Maximalversorger oder in die Spezialklinik. Es geht aber auch manchmal – über weite Strecken – in Reha-Kliniken. Dazu kommen Flüge mit Organersatzverfahren wie unter anderem ECMO* oder Kunstherzen. Und auch die Zahl der zu transportierenden kritisch kranken, kleinen Patienten in zum Beispiel universitäre Kinderzentren hat zugenommen. Ob nun mit Inkubator oder unter laufender ECMO. Die Konzentration der Spitzenmedizin in wenigen Zentren bedingt die Verlegung über immer größere Entfernungen. Und hier ist der Hubschrauber das ideale und manchmal auch einzige Transportmittel.
Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen reinen Intensivtransport- und Rettungshubschraubern zusehends. Waren die Einsätze früher auf ein Indikationsgebiet beschränkt, leisten heute alle Luftrettungsstandorte bundesweit sowohl Einsätze in der Notfallrettung als auch Intensivtransporte.
*Anmerkung der Redaktion: ECMO steht hier für „extrakorporale Membranoxygenierung“ und bezeichnet ein Gerät, das als transportable „Künstliche Lunge“ eingesetzt wird.
Ergibt es dann Ihrer Meinung nach überhaupt noch Sinn zwischen Intensivtransport- und Rettungshubschrauber zu unterscheiden?
Dr. med. Jörg Braun: Nein, aus meiner Sicht ist eine strikte Trennung oder gar ein Verbot von Einsatzarten aus ethischen Gründen nicht vertretbar und auch nicht wirtschaftlich. Gerade in der Luftrettung geht es sehr häufig um einen Zeitvorteil und den dürfen wir nicht aus der Hand geben. Es muss immer der nächstgelegene, geeignete Hubschrauber eingesetzt werden.
Der Hauptunterschied zwischen ITH und RTH liegt heute in der Hubschraubergröße. Das bedingt zu einem gewissen Grad auch Schwerpunkttätigkeiten. Zum Beispiel wird zur Mitnahme einer ECMO oder eines Inkubators einfach mehr Platz benötigt, um die Bedienung der Systeme auch im Flug gewährleisten zu können. Aber grundsätzlich kann auch ein kleinerer RTH eine Intensivverlegung durchführen ebenso wie der ITH ja auch Notfalleinsätze fliegt. Auf beiden „Mustern“ ist es unser Anspruch neben einem bestmöglichen ausgestatteten Hubschrauber auch bestausgebildetes, hochspezialisiertes Personal zum Einsatz zu bringen. Die größeren Hubschrauber bieten natürlich mehr Leistung, Platz und Entwicklungspotential, wenn es darum geht, neue Techniken oder neues Material einzusetzen. Insofern halten die größeren Hubschraubermuster auch immer mehr Einzug bei Rettungshubschraubern.
Welche Veränderungen sehen Sie darüber hinaus im Bereich der Intensivtransporthubschrauber? Gibt es überhaupt noch Verbesserungsmöglichkeiten oder sind wir schon am Limit angekommen?
Dr. med. Jörg Braun (lacht): Ich würde mal sagen, das Limit von heute ist die Basis für morgen. Gerade in der Medizin und Notfallrettung gibt es zum Glück nie Stillstand. In der Luftrettung wird uns sicherlich die weiter voranschreitende Miniaturisierung der Medizintechnik beschäftigen sowie neue Techniken und Möglichkeiten der Diagnostik. Wenn man sich allein die Entwicklung von der Anfangszeit der Intensivtransporthubschrauber bis heute ansieht. Das ist schon enorm, was da geleistet wurde und was heute möglich ist. Und für uns in der Luft heißt das, Gewichtsersparnis und mehr Platz. Beides bringt uns Vorteile. Entweder durch Leistungsgewinn beim Fliegen oder durch die Möglichkeit, zusätzliches Equipment beziehungsweise Personal an Bord nehmen zu können.
Ein langer Weg, der hier bereits beschritten wurde. Haben Sie da überhaupt noch die Motivation und den Antrieb die Entwicklung weiter voranzutreiben?
Dr. med. Jörg Braun: Natürlich! Das ist größtenteils ja auch verbunden mit der Verwirklichung eigener Träume davon, wie Notfallrettung und Intensivtransporte organisiert und durchgeführt werden sollten. Es macht mich als Mediziner einfach unfassbar stolz und dankbar, diesen Prozess begleiten und vorantreiben zu dürfen. Man kann aus der Erfahrung schöpfen und gleichzeitig bin ich ungebrochen fasziniert von allen neuen Möglichkeiten und Chancen, die sich uns immer wieder eröffnen. Wesentliches Element ist hierbei der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Gerade die Vielfalt der Methoden und unterschiedliche Herangehensweisen unserer Partner in den Kliniken. Aber auch die Erfahrung und gleichzeitige Innovationsfreude unserer bundesweit 29 Stationen bieten enormes Entwicklungspotenzial. Hier erlebe ich ein ungebrochenes Engagement. Diesen Input greifen wir auf und ziehen das Beste für die Anwendung in der Luftrettung heraus. Wir standardisieren Prozesse und Equipment und sorgen so für eine breite Anwendung innerhalb des Unternehmens. So befinden wir uns in einem permanenten Wandel, in den Innovationen einfließen können und wir immer das Bestmögliche für unsere Patientinnen und Patienten herausholen. Das ist der Anspruch, den ich an mich selbst und die DRF Luftrettung als Organisation stelle.
Vielen Dank, Herr Dr. med. Braun, für das informative und interessante Gespräch!
Autorin: Maren Wittmann – PR-Redakteurin